Martina Hoffmann, Sie arbeiten als Neuropsychologin mit Menschen nach einer Hirnverletzung. Wie oft spielt das Thema Partnerschaft dabei eine Rolle?
Sehr häufig – eigentlich immer, wenn jemand in einer Partnerschaft lebt. Eine Hirnverletzung betrifft ja nie nur den Einzelnen, sondern immer auch das ganze System rundherum. Schon früh im Therapieverlauf fragen wir, wie jemand lebt, mit wem, in welcher Umgebung. Die Partnerin oder der Partner ist genauso betroffen, oft genauso verunsichert. Es geht darum, beide Perspektiven zu hören, Veränderungen wahrzunehmen und gemeinsam Anpassungen im Alltag zu finden.
Wie reagieren die Angehörigen?
Wenn man «Hirnverletzung» hört, denkt man zuerst an die Betroffenen. Aber es ist immer ein gemeinsamer Einschnitt. Das Leben des Partners oder der Partnerin wird häufig ebenfalls auf den Kopf gestellt. Viele übernehmen zusätzliche Aufgaben, manche sind traumatisiert vom Ereignis, oft müssen auch Lebenspläne neu überdacht werden. Ich finde es wichtig, ihnen Raum zu geben und sie auch wahrzunehmen.
Gibt es typische Dynamiken in Beziehungen nach einer Hirnverletzung?
Nein, das ist sehr individuell. Entscheidend ist, wie stabil und gesund eine Partnerschaft vorher war, welche Ressourcen da sind und welche Art von Einschränkungen vorliegen. Starke Beeinträchtigungen im Verhalten oder in der Kommunikation sind natürlich besonders herausfordernd. Ich sehe aber beides: Paare, die sich trennen, weil die Belastung zu gross wird – und andere, die daran wachsen. Manche erleben die gemeinsame Krise sogar als Vertiefung ihrer Beziehung und nehmen das Leben bewusster wahr.
Was ist die grösste Veränderung?
Meistens wird das ganze Lebenskonzept infrage gestellt. Viele müssen ihre Rollen, Aufgaben und Zukunftspläne neu sortieren. Es braucht auf beiden Seiten grosse Anpassungsleistungen – emotional, praktisch und auch organisatorisch.
Ist es legitim, wenn ein Partner oder eine Partnerin sagt: Ich kann nicht mehr?
Ja, absolut. Es gibt keine Regel, dass man in der Beziehung bleiben muss. Für beide kann es richtig sein, zu gehen – genauso wie zu bleiben. Wenn die Beziehung schon vorher brüchig war, kann der Schicksalsschlag auch der Moment sein, ehrlich hinzuschauen. Wichtig ist, dass man versucht, offen und fair miteinander zu bleiben.
Sie sagen, Wissen über die Hirnverletzung sei entscheidend. Warum?
Weil sonst sehr leicht Missverständnisse entstehen können. Wenn jemand zum Beispiel erschöpft ist, kann das schnell als Desinteresse interpretiert werden. Oder Impulsivität wird mit böser Absicht verwechselt. Wenn Paare verstehen, was die Ursachen sind, können sie gelassener reagieren und gegebenenfalls Anpassungen im Alltag vornehmen, damit die Symptome weniger stark zum Tragen kommen. Wissen hilft, Verständnis aufzubauen und schützt vor Schuldzuweisungen – und entlastet beide Seiten.
Viele berichten, dass Kommunikation plötzlich schwierig wird. Was hilft, wieder ins Gespräch zu kommen?
Das ist tatsächlich zentral. Kommunikation ist das A und O – auch in gesunden Beziehungen. Nach einer Hirnverletzung stehen Paare oft unter grossem Stress. Dann bleibt kaum mehr Raum für echte Gespräche, sondern nur noch für Organisatorisches. In der Therapie schaffen wir diesen Raum wieder: einander zuhören, ausreden lassen, Gefühle benennen. Es kann helfen, feste Zeiten und Regeln dafür zu vereinbaren, um Verständnis zu ermöglichen.
Wie können Partner:innen lernen, mit Stimmungsschwankungen oder Impulsivität umzugehen?
Zuerst müssen wir verstehen, warum diese Veränderungen auftreten. Manchmal ist es Überforderung mit der veränderten Situation, manchmal ein direktes Symptom der Verletzung. Ziel ist, den Alltag so zu gestalten, dass Stress reduziert wird – denn kleine, ständige Überforderungen schaden der Beziehung mehr als grosse Krisen. Und: Grenzen zu setzen ist für beide wichtig.
Wie lässt sich Nähe und Intimität wiederfinden?
Das hängt stark von den Wünschen ab. Ich frage Paare zuerst, was sie sich überhaupt wünschen – nicht, was sie glauben, zu müssen. Auch hier ist es sehr individuell. Manche brauchen körperliche Nähe, andere emotionale. Wichtig ist, dass man darüber spricht und hierfür den richtigen Moment abwartet. Häufig kommen diese Themen aber auch erst wieder, wenn der Alltag etwas stabiler geworden ist.
Viele Angehörige kämpfen mit Schuldgefühlen.
Ja, Schuld spielt oft auf beiden Seiten eine Rolle. Partner:innen fühlen sich schuldig, wenn sie überfordert sind. Betroffene fühlen sich schuldig, weil sie Hilfe brauchen oder glauben, sie würden zur Last fallen. Es ist wichtig, das anzusprechen. Und sich gegenseitig nicht nur als Patient:in oder Helfer:in zu sehen, sondern als ganze Person mit vielen Facetten.
Wann ist professionelle Hilfe nötig?
Ich finde: lieber zu früh als zu spät. Wenn es schwerfällt, offen miteinander zu sprechen, oder wenn Konflikte sich verhärten, sollte man Unterstützung holen. Das kann eine Neuropsychologin, eine Paartherapie oder eine Angehörigengruppe sein – zum Beispiel jene von Fragile Suisse. Auch praktische Entlastung, etwa durch Spitex oder Haushaltshilfe, kann sehr helfen.
Ihr Rat an betroffene Paare?
Sich früh Hilfe zu holen, offen über Gefühle zu sprechen – und sich gegenseitig Raum zu geben. Ehrlichkeit, Geduld und Wissen über die Krankheit sind die besten Schutzfaktoren. Und: Dankbarkeit nicht vergessen, auch wenn es nur die ganz kleinen Dinge sind, für welche man Dankbarkeit erleben kann.
Interview: Carole Bolliger
